Ich wünsche uns Osteraugen,
die im Tod bis zum Leben,
in der Schuld bis zur Vergebung,
in der Trennung bis zur Einheit,
in den Wunden bis zur Herrlichkeit,
im Menschen bis zu Gott,
in Gott bis zum Menschen,
im Ich bis zum Du zu sehen vermögen,
und dazu alle österliche Kraft.
(Bischof Klaus Hemmerle)
Was müssen wir nicht alles mit ansehen in dieser Heiligen Woche? Was müssen wir nicht alles wahrnehmen und in uns aufnehmen in der Zeit vom Palmsonntag bis zum Karsamstag, vom Einzug in Jerusalem bis zur Grablegung?
In geraffter Zeit spielt sich die ganze Bandbreite menschlichen Lebens und menschlichen Leids ab: Von der herrschaftlichen Proklamation zum König durch das Volk bis hin zur Vollstreckung eines heuchlerischen Todesurteils an dem besagten König durch dasselbe Volk. Hass und Verrat, Angst und Feigheit, Lüge und Meineid, Spott und Geläster, Gier und Habsucht, Brutalität und Gewalt geben ein Stelldichein auf der Bühne des Lebens.
Will ich das sehen?
Muss ich das sehen?
Kann ich das mit anschauen?
Für Menschen, die ein Herz haben, ein Herz das fühlt und empfindet, kann das tatsächlich zu viel sein. Menschen, die ein Herz haben, werden das alles nicht aushalten. So mancher schaut lieber weg.
Aber hilft wegschauen?
Werden durch Wegschauen Hass und Gewalt, Lüge und Gier weniger?
Wird durch Wegschauen das Leid des Gekreuzigten und das Leid all seiner Schwestern und Brüder in der Geschichte der Menschheit geringer?
Also doch: Hinschauen!
Aber mit welchen Augen hinschauen?
Aus welchem Blickwinkel hinschauen?
Mit den Augen der Resignation?
Aus dem Blickwinkel der Ohnmacht?
Wie können wir all das Leid mitansehen ohne verbittert und zynisch zu werden, ohne hart zu werden und abzustumpfen?
Wie wäre es, wenn wir einen Blick aus österlichen Augen wagen würden?
Mit Osteraugen sieht man besser!
Warum am Grab stehen bleiben?
Warum nicht weitergehen?
Nach dem Karfreitag und dem Karsamstag kommt der Ostersonntag. Nach dem Tod am Kreuz und nach der Grablegung des Leichnams kommt der Ostermorgen: Das Grab ist leer. Die Leichentücher liegen sorgfältig gefaltet in einer Ecke. Vom Toten fehlt jede Spur. Auch das gibt es zu sehen.
Plötzlich steht einer neben dem Grab. Plötzlich spricht der scheinbare Fremde, der scheinbare Gärtner mich mit Namen an. Plötzlich sieht mein Herz mehr als meine Augen: Rabbuni, Meister!
Plötzlich geht einer mit auf der Flucht nach Emmaus. Plötzlich ist einer da, setzt sich zu Tisch und bricht das Brot. Plötzlich brennt das Herz und erkennt: Jesus lebt! Der Gekreuzigte ist auferstanden!
Mit Osteraugen sieht man besser, weiter, tiefer. Mit Osteraugen sieht man über den Tod hinaus. Mit Osteraugen sieht man durch die Schuld hindurch. Mit Osteraugen sieht man auf den Grund all der Wunden und des Schmerzes.
Und plötzlich sieht man nicht nur Tod, Schuld, Trennung und Wunden. Plötzlich sieht man Leben, Vergebung, Einheit und Herrlichkeit. Plötzlich verschwindet alles Selbstmitleid und macht echter (Nächsten-)Liebe Platz.
Gott und Mensch, Mensch und Gott werden eins.
Es lohnt sich, die Welt mit neuen Augen, mit Osteraugen zu sehen!
Im Namen aller Verantwortlichen der Regens-Wagner-Stiftungen wünsche ich Ihnen von Herzen alle österliche Kraft.
Ihr Rainer Remmele